Debatte zur Wahlrechtsreform
Rede zum TOP 5, 171. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während der erste Bundestag 1949 noch auf der Grundlage eines Wahlgesetzes der Militärregierung nach getrennten Wahlgebieten in den einzelnen Bundeländern gewählt wurde, war es die Aufgabe dieses ersten Deutschen Bundestages, ein Wahlgesetz für die gesamte Bundesrepublik für die zweite Bundestagswahl zu beschließen.
Und, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was geschah? Lange Zeit gar nichts.
(Konstantin Kuhle (FDP): Wie heute!)
Denn der Bundestag konnte sich nicht auf ein Wahlgesetz einigen. Dabei galt es, fundamentale Grundentscheidungen zu treffen. Das Wahlsystem ist nämlich nicht durch Artikel 38 des Grundgesetzes vorgegeben; Artikel 38 normiert lediglich die Grundsätze des Wahlrechts. Also gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts. Die Zeit ging ins Land, und schließlich einigte man sich auf das personalisierte Verhältniswahlrecht.
Und wann einigte man sich darauf? Die Bundestagswahl fand am 6. September 1953 statt. Das dazugehörige Wahlgesetz datiert auf den 8. Juli 1953. Weniger als zwei Monate vor der ersten Bundestagswahl, auf die es angewendet werden sollte, hat der Bundestag das Wahlrecht beschlossen. Keine Sorge: So lange wollen wir nicht warten.
(Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Oh, oh, oh!)
Dabei waren grundlegende Veränderungen umzusetzen: beispielsweise der Übergang vom Einstimmen- auf ein Zweistimmenwahlrecht und die Festlegung eines einheitlichen statt länderspezifischen Wahlgebiets. Man sieht: Wenn man möchte, lassen sich auch kurzfristig umfassende Änderungen des Wahlrechts durchsetzen, sogar fundamentale.
(Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)
Das Wahlrecht von 1953 hat im Übrigen im Grundsatz bis heute gehalten.
Wer will, der kann.
Heute stehen wir wieder vor der Frage, ob wir das Wahlrecht ändern müssen. „Ja“ ist die Antwort darauf. Unser Wahlrecht hat sich grundsätzlich bewährt. Aber durch Änderungen, zu denen wir uns auch durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts veranlasst sahen,
(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
ist das geltende Wahlrecht zum Risikofaktor geworden. Es folgt zwar jetzt sehr weitgehend dem strengen Proportionalitätsprinzip, einem Kernelement des Verhältniswahlrechts, das geschieht aber um den Preis der Unkalkulierbarkeit. Wie groß der Bundestag nach einer Wahl wird, ist aufgrund des geltenden Wahlrechts schwer bis gar nicht zu prognostizieren.
Ja, es ist viel Zeit verstrichen, in der wir intensiv über Lösungen diskutiert haben, ohne zu Ergebnissen zu kommen.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)
Es heißt aber nicht, dass die Zeit für eine Lösung nun gänzlich verstrichen ist. Wir waren immer zu Änderungen bereit,
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)
und CDU und CSU haben einen Weg für die Wahlrechtsreform aufgezeigt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor allem die CSU!)
Unser Vorschlag ist doch gar nicht so arg weit vom Vorschlag der Oppositionsfraktionen entfernt.
(Konstantin Kuhle (FDP): Wo ist er denn? Wie sieht der denn aus? – Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein! Nur knapp 120 Mandate!)
Das gilt auch für das Ergebnis. Nach dem Vorschlag der Opposition gäbe es hier im Plenum 630 Sitze, nach unserem Vorschlag, nach unseren Berechnungen wären es 632 Sitze.
(Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann können Sie auch unseren nehmen!)
Im Gegensatz zu dem Vorschlag der Opposition werden die Lasten jedoch gleichmäßig und nicht einseitig verteilt, wird auf föderale Bedürfnisse Rücksicht genommen und eine moderate und damit für alle tragbare Anpassung des Wahlrechts angestrebt.
Bundestagsabgeordnete müssen für alle Bürgerinnen und Bürger noch erfahrbar bleiben. Das stärkt Bürgernähe und Demokratie. Das bleibt mit einer moderaten Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 auch gewährleistet. Dabei geht es übrigens nicht um einen Unterschied zwischen direkt gewählten oder über Liste gewählten Abgeordneten. Beide haben Wahlkreise als Anker und stellen sich üblicherweise jeweils in einem zur Wahl. Ohne Wahlkreise hätten wir aber ein reines Listenparlament. Schauen wir uns an, was das in unseren Nachbarländern, etwa den Niederlanden, bedeutet: Dort ist ein Abgeordneter für ganze Provinzen aus der Nähe überhaupt gar nicht erfahrbar.
Eine Reform des ersten Zuteilungsschritts sichert die föderale Struktur unseres Bundesparlaments.
(Zuruf des Abg. Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Ohne ersten Zuteilungsschritt wäre die Repräsentanz von ganzen Regionen im Bundestag durch unterschiedliche politische Richtungen nicht mehr gewährleistet.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Das wäre ein Verlust für die politische Kultur. Mit einem reformierten ersten Zuteilungsschritt werden Überhangmandate teilweise mit Listenmandaten der gleichen Partei in anderen Ländern verrechnet. Aber es laufen nicht ganze Länder in der Bundesrepublik für eine Partei leer.
Und schließlich tragen nicht ausgeglichene Überhangmandate, deren Zahl deutlich unter dem verfassungsrechtlich Zulässigen liegen kann, erheblich mit dazu bei, dass der Bundestag nicht weiterwächst. Nicht ausgeglichene Überhangmandate sind in einem engen Rahmen zulässig, weil das Bundesverfassungsgericht anerkennt, dass das Verhältniswahlrecht bei uns durch personale Elemente durchbrochen wird. Wer sich die entsprechenden Passagen im Urteil des Verfassungsgerichts anschaut, kann klar erkennen, dass es dem Senat wichtig war, dies festzuhalten.
Der erste Deutsche Bundestag hat es uns vorgemacht: Man kann das Wahlrecht kurzfristig und zugleich nachhaltig ändern. – So lange wollen wir nicht warten. Noch haben wir aber die Zeit für Änderungen. Wir sind dazu bereit.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie lange warten wir jetzt genau? -Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war jetzt wenig überzeugend!)